WOHNEN MIT DEMENZ: SICH NICHT IM EIGENEN ZUHAUSE VERLIEREN

Gisela B. sitzt im gemütlichen Polstersessel am Fenster. In ihren Händen hält sie ein kleines Büchlein und einen Stift. „Ich schreibe gerade in mein Tagebuch“, erklärt die 94-Jährige dem Besuch, der spontan einen Blick in ihr Zimmer wirft. Alles, was die Seniorin erlebt, will sie festhalten. Zumindest auf Papier, denn gedanklich gelingt ihr das immer weniger. Frau B. lebt in einer Wohngruppe für Menschen mit Demenz.

Wie ihr geht es immer mehr Senioren, die Zahl der an Demenz Erkrankten in Deutschland wird inzwischen auf gut 1,8 Millionen Menschen geschätzt, Tendenz steigend. Sie alle kommen an einen Punkt, von dem an ihr gewohntes Zuhause eine Herausforderung ist. Der Teppich wird zur Stolperfalle, der Flur zum Labyrinth, der angeschaltete Herd zur Gefahr für Leib und Leben. Wer an Demenz erkrankt ist braucht Hilfe, um sich in ihren vier Wänden zurechtzufinden, um sich weiterhin sicher und geborgen zu fühlen.

Frau B. lässt trotz des trüben, regnerischen Tags ihre Stehlampe mit dem ausladenden Schirm ausgeschaltet. Die Seniorin selbst strahlt indes, als sie auf die Gemälde an ihrer Zimmerwand blickt. Ein Motiv mit roten Blumen, kleinere Bilder, die Berge, Wälder und idyllische Landschaften zeigen. „Die habe ich alle selbst gemalt – damals“, sagt sie voller Stolz. „Alle nur mit einem 1er oder 2er Pinsel.“ Die Pinsel sind inzwischen verstaut.

Wenn Worte ihre Wirkung verlieren

Sich mit liebgewonnenen Gegenständen aus vergangenen Zeiten zu umgeben, ist Menschen mit Demenz besonders wichtig. Die verbliebenen Erinnerungen an alte Möbel, Fotos, Geschenke oder Schmuckstücke geben ihnen Halt in einer Welt, die für sie immer diffuser erscheint. Doch für eine Wohnung, die zu ihren Bedürfnissen passt, ist es damit nicht getan, selbst barrierearm gestalteter Wohnraum ist erst der Anfang. Wer seinem erkrankten Lieben ein angemessenes Zuhause gestalten will, in dem er im Rahmen seiner Möglichkeiten recht selbständig und somit zufrieden leben kann, muss weiter schauen als in die Vergangenheit und über bodengleiche Duschen hinaus denken.

„Nicht nur der Geist, auch die Wahrnehmung der Bewohner verändert sich“, weiß Bettina Koch von der Rheinhessen-Fachklinik im rheinland-pfälzischen Alzey. Sie koordiniert die dortigen Wohnpflegegemeinschaften. In einem Doppelhaus leben zwei Wohngruppen mit jeweils zwölf Menschen, die an Demenz erkrankt sind. Es ist ein wohlbedachter Mix aus Lebendigkeit und Ruhe, den die Pflege-WG ausmacht. Die Gemeinschaftsflächen sind offen gestaltet. Der freie Blick in die Küche lädt zum Mitmachen ein, eine lange Tafel steht neben dem kleinen Tisch, an dem sich das Betreuungspersonal bespricht. Vier Bewohnerinnen treffen sich gerade in der Sofa-Sitzecke vor dem gemeinsamen Fernseher. Sie sind sich vertraut, kennen sich noch aus alten Schultagen. Zwischendrin dreht die Physiotherapeutin mit einer Seniorin ihre Runden. Die sozialen Kontakte, das Miteinander und das alltägliche Erleben stärken Menschen mit Demenz. Bewohner, die zeitweise für sich sein wollen, ziehen sich in ihre eigenen Räume zurück.

Starke Kontraste schaffen Orientierung

Das richtige Maß an Ablenkung und Beschäftigung zu finden, ist eine Herausforderung im Umgang mit an Demenz erkrankten Menschen. Mit fortschreitender Krankheit nimmt die korrekte Einordnung von Sinneseindrücken ab. In der dekorativen Gestaltung der Wohnung lautet das Credo daher: Weniger ist mehr. „Es kommt auf klare Strukturen an“, sagt Koch. „Unruhige Muster oder Farbverläufe sehen vielleicht schöner aus, können aber bei fortgeschrittener Demenz Orientierungslosigkeit und Angst auslösen“, erklärt die Sozialpädagogin. Dagegen zeigen Farbkontraste zwischen Boden und Wand oder deutlich abgrenzbare Gegenstände den Bewohnern, wo sie sich sicher bewegen können. Daher haben die Eingangstüren zu den Privatzimmern der Wohngemeinschaft auch dunkelgraue Zargen, als optische Orientierungspunkte im weiß gehaltenen Flur. „Die Zimmer am Ende des langen Flures haben wir den Bewohnern zugewiesen, die beim Einzug noch am fittesten waren“, erläutert Koch. „Für sie ist es am einfachsten, den langen Gang zu bewältigen. Und bis zur fortgeschrittenen Demenz ist es schon eingeübt.“

Das Mittel der starken Kontraste lässt sich vielerorts weiterführen, auch auf dem Esstisch. „Für demenzerkrankte Menschen ist es besonders ungünstig, wenn weißes Geschirr auf einem weißen Tisch oder einer weißen Tischdecke stehen. Sie können nur schwer erkennen, wo der Teller aufhört“, erklärt Koch. Buntes Geschirr hilft. Ebenso wie ein farbiger Punkt auf dem weißen Lichtschalter oder beispielsweise die roten Haltegriffe an der Toilette im Alzeyer Gemeinschaftsbad. Gerade in unsicheren Situationen bieten die Signalfarben Orientierung. „Und sie schaffen Sicherheit in den gewohnten Abläufen“, betont Birgit Dietz, Leiterin des Bayerischen Instituts für alters- und demenzsensible Architektur. „Rot ist die Farbe, die Senioren am längsten erkennen“, sagt sie. Dennoch: Übertreiben sollte man den Einsatz roter Farbe nicht. Das könnte zu einer Reizüberflutung führen.

Der Kniff mit den Farben lässt sich gleichzeitig in die andere Richtung anwenden. Räume oder Türen wie insbesondere Ausgänge, durch die Menschen mit Demenz das Haus unbemerkt verlassen könnten, können entsprechend unscheinbar gestaltet werden. Milchglasfolien auf Glastüren etwa verdecken das Geschehen jenseits der Schwelle. Das Kompetenzzentrum Demenz in Schleswig-Holstein empfiehlt zudem einen Vorhang als Windfang oder das Streichen der Tür in der Wandfarbe. Motivfolien oder Tapeten auf den Türen sollten hingegen nur mit Bedacht gewählt werden. „Das beliebte Folien-Motiv eines Bücherregals kann zu Verwirrung führen, wenn es sich mit einem Mal öffnet und Besuchende eintreten.“

Es sind aber nicht nur Farben, die den Dialog mit den von Demenz Betroffenen unterstützen, wenn Worte ihre Wirkung verlieren. Oftmals sind es auch Piktogramme oder Fotos an Türen und Schränken, die den erkrankten Menschen den Weg weisen. Gerade das Zeichen zur Toilette sollte unmissverständlich sein, aber auch ein Foto vom Kühlschrankinneren an dessen Außentür kann dazu beitragen, dass diese Tür öfter geschlossen bleibt.

So viel natürliches Licht wie möglich

Im Zusammenhang mit Farben spielt auch das richtige Licht in der Wohnung eine wichtige Rolle. Nicht umsonst reihen sich zahlreiche Fenster an den Seitenwänden der Gemeinschaftsfläche in der Alzeyer Pflege-WG aneinander. Das Licht reguliert zudem die Ausschüttung des Schlafhormons Melatonin, beeinflusst also auch, wie fit oder müde der Bewohner den Tag über ist. „Wir brauchen im Alter mehr Licht, und zwar am Tag das kalt-weiße“, erklärt Architekturexpertin Dietz. Lampen mit biodynamischem Licht wechseln selbständig die Farbigkeit, abends hin zum Licht mit mehr Rotlichtanteilen. „Durch die indirekt-direkte Beleuchtung der Lampen kommt es außerdem zu weniger Schattenbildung und keinen Blendungen“, informiert das schleswig-holsteinische Kom­petenzzentrum.

Tagsüber geht aber nichts über das natürliche Licht. Planungsfachfrau Dietz plädiert dafür, Vorhänge möglichst weit aus dem Fensterbereich hinaus zur Seite schieben zu können, um einen maximalen Lichteinfall zu ermöglichen. Noch besser wäre der Aufenthalt an der frischen Luft und im eigenen Garten, der mit duftenden Blüten, samtigen Blättern oder aufgehenden Knospen nebenher noch die weiteren Sinne stimuliert.

In Alzey hält der Garten, den sich die beiden Wohngruppen teilen, eine Spezialität bereit: Hühner. „Die Tiere bieten eine willkommene Abwechslung. Da gibt es immer etwas zu schauen“, erzählt Koordinatorin Koch. Selbst an diesem regnerischen Tag stolziert zwischendurch ein schwarzes Huhn an der Terrassentür entlang. Viele Bewohner, so berichtet Koch, hätten aus ihrem früheren Leben in einer Landwirtschaft einen stärkeren Bezug zu Tieren.

Vorsicht vor zu vielen Lärmquellen

Für eine oftmals vernachlässigte Thematik hält Dietz derweil die Akustik in Räumen. Im Alter nehme das Hörvermögen ohnehin ab, doch bereits in einem frühen Stadium der Demenz funktioniere zudem die Zuordnung von Geräuschen nicht mehr zuverlässig. „Angenommen, die Tür knallt zu, doch die Dame glaubt, es sei ein Schuss gewesen und versteckt sich angsterfüllt“, gibt Birgit Dietz ein Beispiel.

Auch zu viele Lärmquellen gleichzeitig führten zur Reizüberflutung und letztlich zum Rückzug, sie fördern also die Demenzerkrankung. „Wir empfehlen beispielsweise, Badezimmer nur halbhoch zu fliesen“, rät die Institutsleiterin. Ebenso könnten schallschluckende Textilien und Materialien im Raum eingesetzt werden. Manchmal helfe es schon, elektronische Geräte, von denen ein ständiges Brummen ausgeht, auszuschalten oder in einen anderen Raum zu bringen.

Die Liste mit Empfehlungen für eine demenzgerechte Wohnung ist lang. Letztlich müssen Angehörige und Pflegepersonal entscheiden, was zu dem Bewohner passt. In Alzey haben sie offenbar den allgemeinen Geschmack gut getroffen. Das Damen-Grüppchen in der Sofa-Ecke ist sich auf Nachfrage einig: Sie seien froh und zufrieden mit ihrem Leben in der Pflege-Wohngemeinschaft.

„Uns geht es gut hier“, holt Bewohnerin Adele P. aus. „Wir haben eine schöne Gemeinschaft, hier ist immer was los“, erzählt die 96-Jährige. Nur ein Schwimmbad vermisse sie im Haus, sagt sie und lächelt – vermutlich wohl wissend, dass das ein Wunsch bleibt.

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