SEHNSUCHT NACH STILLE: PLäDOYER FüRS CAMPEN: WARUM JEDER VON UNS EINE AUSZEIT IN DER NATUR GEBRAUCHEN KöNNTE

Natur pur versus Mückenstiche und Rückenschmerzen: Der Camping-Boom teilt die Geister. Dabei spricht enorm viel für eine Auszeit in der Natur. Ein Plädoyer fürs Campen. 

Vom Rauschen des Meeres aufgeweckt werden, den ersten Blick des Tages direkt auf die Wellen gerichtet, während der Kaffee vom brodelnden Gaskocher erwärmt wird und man die angenehme Brise des Seewindes im Gesicht spürt … Zugegeben, das ist eine sehr romantische Vorstellung von einem Camping-Trip. Auch, wenn sie nicht unbedingt unrealistisch ist, trifft sie dennoch nicht immer zu. Oft ist Camping mit Mückenstichen, unbequemen Schlafmatratzen und kalten Nächten verbunden. Und trotzdem ist es etwas, das jedem von uns viel geben kann – wenn man sich darauf einlässt.

Es ist kein Geheimnis: Die letzten Jahre waren für viele Menschen schwer. Reisen war kaum möglich, wir waren isoliert von anderen Menschen, der Freiheit und der Ferne. Und jetzt, wo die Welt uns wieder offensteht, wollen auf einmal gefühlt alle campen. Das ist kein Wunder. Die Unsicherheit der Pandemie hinter sich lassen, die Energiekrise und den Ukraine-Krieg einmal vergessen und gegen das Vogelzwitschern am See oder das Rascheln der Bäume im Wald eintauschen.

Auszeit vom Alltagsstress

Nur für eine kurze Zeit mal durchatmen und runterfahren. Abschalten vom Terminmarathon im Job, von den sozialen Verpflichtungen im Privatleben und den Erledigungen, die das Erwachsenenleben eben so mit sich bringt: Steuern, Rechnungen, Haushalt. All das kann gelingen, wenn wir einfach in den Camper steigen und ins Blaue fahren, etwas überspitzt formuliert natürlich.

Eigentlich liegen die Vorteile vom Camping auf der Hand. Wer mit dem Camper, dem Zelt oder dem Wohnmobil unterwegs ist, der reist sehr naturnah und bodenständig. Viel Gepäck kann meistens nicht untergebracht werden, wir müssen uns auf das Nötigste beschränken. Das mag erstmal nicht unbedingt nach Urlaub und Genuss klingen, kann aber durchaus befreiend sein. Denn es zwingt uns zu der Frage: Was brauche ich eigentlich wirklich, um meinen Urlaub zu genießen? Viele werden merken, dass es eben nicht die zehn Outfits oder die unerschöpfliche Reisekosmetik ist, die uns glücklich machen.

Im Gegenteil: Oft lenken diese Dinge uns vom Wesentlichen ab. Von den neuen Orten, die wir entdecken könnten, wenn wir nur die Augen öffnen, statt ständig auf das Smartphone zu schauen oder in den Spiegel. Beides spielt beim Camping-Urlaub ohnehin eine eher untergeordnete Rolle. Das Handy kann man getrost mal in der Tasche lassen und die Natur ist gnädig, wenn wir mal nicht schick rausgeputzt sind. Eitelkeiten und die viel verbreitete Angst, etwas zu verpassen, haben eben keinen Platz im Zelt. Zum Glück.

Einfach mal Mensch sein

Selbst auf gut besuchten Campingplätzen, und davon gibt es in Deutschland immerhin knapp 3000 Stück, verwächst man unter den Campenden schnell zu einer kleinen Gemeinschaft. Jeder grüßt den anderen, alle freuen sich, einander zu sehen und feiern auch gerne mal spontane Feste zusammen. Es ist eine kleine Parallelwelt, in der jeder Camper einfach eine gute Zeit haben möchte. Und es ist vollkommen egal, ob man Bank-Direktor oder Bauarbeiter ist. Man ist einfach Mensch. Eine Erfahrung, die wir im Alltag viel zu selten machen – die aber unfassbar bereichernd sein kann. Und befreiend.

Freiheit ist ohnehin ein weiterer großer Grund fürs Campen. In vielen europäischen Ländern, vor allem in Skandinavien, ist Wildcampen noch erlaubt. Das heißt, man kann sein Zelt überall dort aufschlagen, wo man gerade ist. Einschlafen unter Polarlichtern und Aufwachen mitten im Nationalpark mit Blick auf den Fjord – kein Problem. Das geht natürlich auch von speziellen Hotels aus. Das kostet allerdings nicht nur das Vielfache, sondern hat auch einen entscheidenden Manko: Der Abenteuer-Faktor vom Wildcampen geht verloren. Und es hat schon einen gewissen Reiz, Tür an Tür mit Elchen und Polarfüchsen zu schlafen, oder?

Tun und lassen, was man will

Zu viel Nervenkitzel? Beim Campen geht es auch um Gelassenheit und Ruhe. Wer mit leichtem Gepäck reist, der schafft sich Raum und Zeit, innerlichen Ballast abzubauen. Morgens am See aufwachen, Katzenwäsche, Kaffee mit Blick auf den See und einfach mal die Seele baumeln lassen – das ist in schicken Design-Hotels und Hotelburgen nicht möglich. Dort wird vielmehr die Hektik fortgesetzt, die wir schon im Alltag zu Genüge erleben: Frühstück zu festen Zeiten, dann Freizeit-Programm und der Konsum darf bitte auch nicht fehlen.

Wer mit dem Camper in der Pampa unterwegs ist, der braucht im Zweifel nicht einmal eine Uhr. Man kann für einen Moment loslassen von den Verpflichtungen, die uns zunehmend unter Druck setzen, denen wir immer hinterherjagen, um ja nichts zu verpassen und der Leistungsgesellschaft gerecht zu werden. In der Natur will niemand etwas von uns. Die Sonne geht auf, der Tag geht seinen Weg, die Sonne geht unter. Und wir sind einfach da und atmen, lassen die Natur auf uns wirken und machen einfach das, was sich für uns selbst in diesem Moment richtig anfühlt. Ein Gefühl, das jeder von uns verdient hat – und in einer turbulenten Zeit wie der jetzigen vielleicht mehr benötigt als je zuvor.

stern-Redakteurin Laura Schäfer hat eine andere Meinung. Sie sagt: Camping gibt nichts außer Langeweile, Rückenschmerzen und Mückenstiche. Ihren Kommentar lesen Sie hier.

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