NORDERNEY IM STRESS: WIE DIE SPD EINE GANZE INSEL AUFMISCHT

Solche Szenen hat diese Insel noch nie gesehen: Hunderte Polizistinnen und Polizisten schieben Wache. Urlauber, die nach Norderney wollen, werden schon an den Festland-Bahnhöfen in Leer und Emden von Bundespolizisten beobachtet. Bereitschaftspolizisten sind im Einsatz, Taucher, Sprengstoff-Spürhunde. Weil Kanzler, Parteispitze, drei Minister und rund 100 SPD-Bundestagsabgeordnete aus NRW, Niedersachsen und Bremen zur „Frühjahrstagung“ zusammenkommen, steht eine ganze Nordseeinsel Kopf.

Scholz-Besuch auf Norderney: Erinnerungen an Habecks Fahrt von der Hallig Hooge

Viele, die die fünf kleinen Boote mit Sicherheitskräften sehen, die der von der SPD gemieteten Fähre ab Norddeich Mole wie eine Gruppe Seehunde folgen, denken an Robert Habeck und dessen Erfahrungen mit Wutbürgern nach einer Überfahrt von der Hallig Hooge. Wäre die Maßnahmen ohne diese Vorgeschichte auch so üppig? Urlauberinnen und Urlauber filmen mit ihren Handys die politischen Gäste, die in ein Herzstück der Insel, ins historische „Conversationshaus“ gehen. Die Touristen-Info dort ist zwei Tage lang dicht. Ein Ehepaar aus NRW nimmt die widrigen Umstände locker: „Wir haben Urlaub. Wir haben Zeit.“

80 Polizeifahrzeuge seien auf der Insel, heißt es aus Veranstalterkreisen. Das große Besteck wird damit erklärt, dass es im Notfall kaum möglich wäre, zusätzliche Kräfte schnell vom Festland auf die Insel zu bringen. Sicher ist sicher.

Norderney im Ausnahmezustand: So viele Politik-Promis auf einmal waren noch nie dort

„Es waren schon Spitzenpolitiker und -politikerinnen auf Norderney, aber noch nie so viele gleichzeitig“, sagt Wiebke Baden, Sprecherin der Polizeiinspektion Aurich/Wittmund. Ihre Kolleginnen und Kollegen wollen die Belastungen für Urlauber möglichst geringhalten, erklärt sie. Touristen und Inselbewohner bewegen sich teils neugierig, teils gestresst zwischen Strand und Absperrungen.

Das Motto der Frühjahrstagung der SPD-Bundestagsabgeordneten -- „Stabilität und Stärke“ -- ist angesichts mieser Umfragewerte für die Partei und einer notorisch streitenden „Ampel“ eher als Absichtserklärung zu verstehen. Der Treffpunkt Norderney bietet der SPD bei ihrer Suche nach einem Kompass für kommende Wahlkämpfe ein paar Vorteile. „Man kann sich hier nicht verlaufen“, versichert Strandbad-Geschäftsführer Wilhelm Loth den Gästen aus dem Politikbetrieb während der Überfahrt. Außerdem gebe es hier den einzigen linksdrehenden Leuchtturm weit und breit. Ist das die richtige Richtung?

Die SPD rückt in rauer Zeit zusammen, indem sie auf Norderney viele ihrer wichtigsten Akteure zusammentrommelt: Olaf Scholz, Lars Klingbeil, Saskia Esken, Bärbel Bas, Boris Pistorius, Hubertus Heil, Karl Lauterbach und Katarina Barley, der ein harter EU-Wahlkampf bevorsteht. Auch Jasmin Fahimi ist dabei, die DGB-Chefin. Krieg und Frieden, Inflation und Abstiegsängste, das Erstarken der extremen Rechten – Es gibt viel, über das hier gesprochen werden soll.

SPD-Frühjahrstagung auf Norderney: Jochen Ott warnt: „Die Leute haben den Kaffee auf“

Der nordrhein-westfälische SPD-Landtagsfraktionschef Jochen Ott, den viele Bundestagsabgeordnete bisher noch gar nicht auf dem Schirm hatten, setzt ein Ausrufezeichen, indem er nicht der Versuchung erliegt, die Lage schön zu reden. Viele Menschen hätten das Gefühl, in einem Hamsterrad zu sitzen. Sie fänden keine Wohnung, bekämen keinen Arzttermin, könnten nicht mehr in den Urlaub fahren. Eltern würden morgens „angesimst“: Heute keine Kita. „Die Leute haben den Kaffee auf“, warnt Ott. Um all jene, die gerade in der „Rush-Hour“ des Lebens steckten, müsse sich die SPD mehr kümmern.

So viel Ungeschminktes vertragen nicht alle. „Warum redet der so?“, wird geflüstert. Aber Lars Klingbeil, der Bundesparteichef, schlägt später ähnliche Töne an: „Konzentriert Euch auf das Wesentliche. Das Leben vieler Menschen verändert sich brutal.“ Inzwischen habe eine Mehrheit der Bürgerinnen und Bürger regelrecht resigniert. „Sie sagen: Es ist zu viel, es ist zu laut, ich kann nicht mehr.“

Karl Lauterbach: „Das beste Desinfektionsmittel ist Rotwein“

Für einen heiteren Moment sorgt Karl Lauterbach, dem als Gastgeschenk mitten im Kurzentrum ein alkoholhaltiges Desinfektionsmittel zur äußeren Anwendung überreicht wird. „Das beste Desinfektionsmittel ist Rotwein“, findet der Gesundheitsminister.

Olaf Scholz wird am Freitag im „Conversationshaus“ herzlich, aber nicht überschwänglich begrüßt. Aus aktuellem Anlass betont er sein Selbstverständnis als Friedens-Bewahrer: „Alle müssen jetzt dafür sorgen, dass es nicht zu einer weiteren Eskalation kommt“, sagt er kurz nach dem Angriff Israels auf Ziele im Iran.

Warnungen vor einer absaufenden Wirtschaftsnation Deutschland mag Scholz nicht hören. Für ihn ist Deutschland immer noch ein großer Player. Die „drittgrößte Volkswirtschaft der Welt“ müsse sich nicht selbst kleinreden. Der „Turnaround“ hin zur Modernisierung sei längst eingeleitet: „Deutschland wird das Zentrum der Halbleiterindustrie in Europa“, erzählt der Kanzler stolz.

Scholz auf Norderney: Markus Töns aus Gelsenkirchen gibt Kontra

Der Gelsenkirchener Bundestagsabgeordnete Markus Töns traut sich, Salz in des Kanzlers Suppe zu streuen: „ich komme aus dem Ruhrgebiet. Eine Chip- und Halbleiter-Industrie ist wichtig. Aber bei Thyssen Krupp wird abgebaut. Die wollen und müssen grünen Stahl produzieren. Da hängen tausende Arbeitsplätze dran.“ Der Kern seiner Botschaft: Eine neue Industrie dürfe die alte nicht aus dem Blick verlieren.

Olaf Scholz erinnert daran, dass er zuletzt in China Mega-Städte mit Millionen Einwohnern besucht habe. „Jetzt sind wir auf Norderney, eines der wichtigsten Urlaubsziele der Nordrhein-Westfalen, mit 6000 Einwohnern“, sagt er. Die kleine Insel, das stellt sie unter Beweis, wird auch mit Kanzler-Besuchen fertig. Aber nur, weil einige hundert Damen und Herren in Uniform auf Norderney aufpassen.

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