KANARISCHE INSELN: PROTESTE GEGEN MASSENTOURISMUS - »KANAREN AM LIMIT«

Rund 16 Millionen Touristen überfluten jährlich die Kanaren. Hohe Mieten, Bettenburgen und Umweltzerstörung sind die Folge, warnt Geologe Néstor Marrero. Mit Protesten wehrt er sich gegen den Ausverkauf seiner Heimat.

SPIEGEL: Señor Marrero, seit Wochen ziehen Ihre Landsleute auf die Straßen, um gegen die Folgen des Massentourismus auf den Kanarischen Inseln zu demonstrieren. Jüngst waren 100.000 Menschen unterwegs, stimmt Sie das optimistisch?

Marrero: Das tut es, ja! Die Proteste am vergangenen Wochenende waren einfach umwerfend. Wir waren so viele wie noch nie! Zuvor gab es keine vergleichbaren Aktionen, die Menschen waren einfach noch nicht wütend genug. Jetzt aber hatten wir zeitgleich Demos auf acht Inseln, in der Hauptstadt Madrid, sogar in Berlin und London schlossen sich Exil-Kanaren an. Ich selbst war in Teneriffas Hauptstadt Santa Cruz dabei und musste immer wieder weinen, so überwältigt, so ergriffen war ich von meinen Landsleuten, denen die Heimat am Herzen liegt. Auch meine Eltern marschierten mit, es war die erste Demo ihres Lebens.

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SPIEGEL: Auf Teneriffa trat auch ein halbes Dutzend Menschen in den Hungerstreik, was wissen Sie über deren Zustand?

Marrero: Heute ist der 14. Tag, den meisten geht es gut. Aber ein Hungerstreikender wurde bereits ins Krankenhaus eingeliefert. Dort bekam er Besuch von der Regionalregierung. Zu einer Einigung kam es natürlich nicht, denn illegale Bauten, Korruption und Raubbau an der Natur sind gängige Übel in Teneriffas Lokalpolitik.

SPIEGEL: Ihre Protestbewegung »Kanaren am Limit« wehrt sich aktuell gegen zwei Hotelprojekte, ein Luxusresort und eine Bettenburg aus Beton, die an den noch unberührten Küstenabschnitten im Süden Teneriffas gebaut werden sollen. Beide Vorhaben waren jetzt Auslöser für die Proteste und den Hungerstreik.

Marrero: Ja, denn beide Projekte wurden schon mal gestoppt, jetzt aber wieder genehmigt von der neuen, konservativen Lokalregierung. Eine komplett verrückte Idee, wie ich finde, und so überflüssig. Denn wir haben längst genug Hotels und Ferienwohnungen. Die einzigen, die keine Bleibe mehr finden, sind wir Inselbewohner. Weil sich viele von uns einfach keine Grundstücke und Wohnungen mehr leisten können und gezwungen sind, die Inseln zu verlassen.

SPIEGEL: Stattdessen kommen Touristen: 16 Millionen waren es im vergangenen Jahr, doppelt so viele wie vor 15 Jahren. Laufen die Kanaren Gefahr, am eigenen Erfolg zugrunde zu gehen?

Marrero: Ich denke ja, denn diesen Tod sterben wir seit ein paar Jahren. Wir 2,2 Millionen Kanaren sind tatsächlich die Leidtragenden, auch wegen der Touristenströme, die uns eigentlich ein gutes Leben bescheren und ernähren sollten. Ich kenne Inselbewohner, die in ihren Autos leben, weil sie sich keine Unterkunft mehr leisten können. Weil Menschen aus ganz Europa hier Grundstücke kaufen und Ferienapartments und damit die Immobilienpreise in die Höhe treiben. Auch Lebensmittel kosten mehr als in Madrid, und das ist unter anderem der wachsenden Zahl von digitalen Nomaden geschuldet. Alles dreht sich um die Bedürfnisse der Besucher, unsere eigenen werden außer Acht gelassen. Das in etwa ist der Konflikt, der sich immer weiter zuspitzt.

SPIEGEL: Dennoch leben die Kanaren wie andere Hotspots namens Venedig oder Amsterdam vor allem vom Tourismus…

Marrero: Das sehe ich anders. Trotz der steigenden Besucherzahlen sind wir eine der ärmsten Regionen Spaniens. Ein Drittel der Einwohner ist bereits verarmt oder von Armut bedroht, wir haben 15 Prozent Arbeitslosigkeit. Unser Durchschnittslohn liegt hier bei 1200 Euro, da stimmt doch was nicht.

SPIEGEL: Wer also profitiert von den Einnahmen?

Marrero: Einerseits kommen die meisten touristischen Unternehmen nicht von den Kanaren, viele Hotelbesitzer sind etwa Deutsche oder Briten. Und andererseits, und das ist entscheidend, geht es hier um hausgemachte Korruption, um schlechte Lokalpolitik wie jetzt bei den Hotelbauten. Vor allem dagegen richtet sich unser Protest.

SPIEGEL: Gibt es weitere Folgen des Massentourismus?

Marrero: Und ob! Die Wasserreglementierung zum Beispiel: Heutzutage steht uns nur eine bestimmte Menge zu Verfügung, bereits ab März müssen wir Wasser sparen. Dahingegen haben Touristen überhaupt kein Limit. Denken Sie an die Hotelpools oder die gut gesprengten Golfplätze während der immer trockeneren Sommermonate. Das Hauptproblem der Inseln ist, dass die Zahl der Touristen zunimmt, sich aber die Infrastruktur nicht verändert hat. Zu beobachten ist das beim öffentlichen Verkehr oder der medizinischen Versorgung: Es kommen immer mehr Patienten, denn auch Touristen werden krank. Aber seit 20 Jahren platzen die Krankenhäuser aus allen Nähten und es gibt zu wenig Personal. Oder denken Sie an die Staus durch die verrückt gestiegene Anzahl an Mietwagen.

SPIEGEL: Das hört sich nach einem beschwerlichen Alltag an…

Marrero: Ja, so sieht sie aus, die unbekannte Kehrseite der weltweit geliebten Kanaren. Neulich sagte ein Freund, es fühle sich so an, als wären unsere Inseln das Bühnenbild, und wir stehen als Marionetten mittendrin und performen für die Touristen. Sobald das Licht ausgeht, ist alles düster und tot. Und am nächsten Tag treten wir wieder auf und tun so, als sei alles gut.

SPIEGEL: Und nun wollen die Einheimischen nicht mehr mitspielen und protestiert mit Slogans wie »Wir sind kein Vergnügungspark« oder »Ausverkauf der Kanaren«. Keine Angst, die Touristen damit zu verprellen?

Marrero: Nein.

SPIEGEL: Welche Art von Tourismus könnte die Inseln retten?

Marrero: Weniger Tourismus, qualitativer Tourismus. Wir haben keinen Platz für Besucher, die doppelt so viele Ressourcen verbrauchen wie die Menschen vor Ort. Mir zerreißt es das Herz, wenn ich mitbekomme, wie Engländer oder Deutsche hier zwei Wochen in ihren Hotelburgen verbringen, ohne auch nur einmal unsere wunderschöne Natur und Kultur zu erkunden. Diese Leute interessiert bloß Sonne und die Kopie ihrer Heimat, eine Art England in Klein und Warm mit Irish Pubs, Guinness-Bier und Fußballübertragungen. Die Tourismuskonzerne fördern das auch noch, indem sie ein austauschbares Produkt aus Betonburgen und Pools kreieren. Mit den Kanarischen Inseln hat es nichts mehr zu tun.

SPIEGEL: Wie sollte er denn sein, der willkommene Tourist?

Marrero: Das hat viel mit Bildung zu tun, denke ich. Ich bin studierter Geologe, forsche über die Veränderung von Strand- und Meereslandschaften und die Auswirkung von Tourismus auf Sandstrände. Ich möchte wieder Menschen sehen, die unsere Natur auf nachhaltige Art und Weise genießen. Ich will Touristen, die sich in meine Straße verirren und mich nach dem Weg fragen. Denen gebe ich gern Auskunft und Tipps. Denn ich hasse Touristen ja nicht. Ich wünsche mir nur eine andere Art von Tourismus. Vergangenes Jahr war ich in Indonesien und konnte kaum entspannen. Überall ähnliche Probleme: unbegrenztes Wachstum, zerstörerischer Ausverkauf, von Plastik vermüllte Strände.

SPIEGEL: Was fordern Sie konkret?

Marrero: Eine Lösung wäre die Einführung einer Touristensteuer oder Kurtaxe. In Barcelona gibt es die schon, für Venedig braucht man ab sofort ein Tagesticket für fünf Euro. Bei den für 2024 prognostizierten 17 Millionen Besuchern und einer Steuer von zwei bis drei Euro pro Tag käme eine stattliche Summe zusammen, mit der sich der öffentliche Verkehr und Krankenhäuser sanieren ließen. Außerdem setzen wir uns für Ökotourismus ein, Umweltsteuer und diverse Baustopps.

SPIEGEL: Wie lange werden Sie noch demonstrieren?

Marrero: Am Donnerstag ist ein weiterer Protest in der Altstadt von Santa Cruz geplant. Wir werden uns auf die Erde hocken und den Autoverkehr lahmlegen. Danach könnten Streiks folgen, ein Tag, an dem wir alle unsere Arbeit niederlegen. Gebt uns ein paar Wochen des Ungehorsams, bevor der Sommeransturm losgeht. Alles Weitere hängt davon ab, wie die Lokalregierungen auf unsere Forderungen reagieren.

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