KRISTIN HöLLER UND IHR DEBüTROMAN „LEUTE VON FRüHER“ – DIE BUCHKRITIK

Was für ein Job! In kratzigen Strümpfen, mit Haube, bodenlangem Rock in einem Krämerladen stehen und eine klingelnde Kasse bedienen, deren digitales Innenleben für die Kundschaft unsichtbar ist. Marlene Rübel, 29 Jahre alt, spielt einen Sommer lang Touristen das 19. Jahrhundert vor. Für einen dürftigen Lohn verkauft sie auf einer Nordseeinsel Kekse, Sirup und Weingummi aus altertümlichen Gläsern – billige Fabrikware, diskret umgefüllt. Das meiste im Erlebnisdorf ist Schwindel. Es gehört übrigens einem Mann, der überwiegend abwesend ist, weil er auch an der Ostsee Land und Häuser besitzt.

Marlene ist das egal, sie nimmt es hin wie ihre lauwarme Beziehung zu ihrem Freund zu Hause in Hamburg, ihr karges Zimmer in der Mitarbeiterbaracke auf der Insel, das peinliche Kostüm, ihre Angst vor der Zukunft nach einem langen Studium der Medienkommunikation. Wer am Anfang von Kristin Höllers Roman „Leute von früher“ mit dieser emotional gedimmten und entsprechend langweiligen Heldin hadert, sollte das Buch nicht zuklappen, denn es erzählt davon, wie sie sich im Laufe des Sommers verändert. Weil sie sich verliebt, natürlich, und zwar in Janne aus der Fischräucherei.

Die ist auf der Insel aufgewachsen, hat aber einen peruanischen Vater und eine Mutter, die von der engen Insel floh. In der hölzernen Vogelwarte, wo Janne mit Meerblick wohnt, serviert sie Marlene Strandkräuter, Krabben und selbstgesammelte Austern, bald liegen sie zusammen im Bett. Das liest sich etwa so, wie eine Jever-Reklame aussieht: viel Himmel, viel Wasser, viel Strandgras, aber warum auch nicht? Liebesgeschichten dürfen kitschig sein, zumal wenn sie, wie diese, ansonsten sachlich und vielschichtig erzählen.

Kristin Höller, geboren 1996, kann das gut. Sie wurde schon für ihr Romandebüt „Schöner als überall“ sehr gelobt und mit Förderpreisen belohnt, schrieb Hörspiele und ein Theaterstück, veranstaltete die queere Lesereihe Smash. Ihr Sommer-Insel-Erlebnisdorf-Roman bietet keine Coming-Out-Romanze, sondern die vorsichtige Annäherung zweier Individuen. Und sie zeigt eine junge Frau, die auflebt, die ihre Gefühle wie auch die bedenklichen Seiten ihrer Arbeit erheblich schärfer wahrnimmt als zuvor.

Der Roman entfaltet die Szenen in knappen Dialogen und Marlenes Beobachtungen, Empfindungen, Erinnerungen. Wir lesen, wie die beiden Frauen Sex miteinander haben, reden oder essen, aber auch, wie die Saisonkräfte in ihren Baracken zusammensitzen, froh, nach Feierabend ihre Schürzen, Schnürstiefel, Fischerhemden abzulegen und endlich ihre Handys hervorzuholen. Bei der Arbeit ist das ja verboten – wie Rauchen, Make-up und sichtbare Tattoos. All das ist viel interessanter als die im Meer versunkene Stadt Rungholt und gespenstische Glockenschläge und Salzwasserpfützen, die im Roman auch eine gewisse Rolle spielen und sich gegen Ende zu einem düsteren Geheimnis verdichten. Diesen Küstengrusel hätte der Roman gar nicht gebraucht.

Seine Haupt- und Nebenfiguren mit ihren Lieben, Sorgen und Sehnsüchten sind fesselnd genug. Und das Erlebnisdorf, das Höller sich ausdenkt, ist sowieso eine ausgezeichnete Erzählidee – mit Großmarktgemüse im Weidenkörbchen, versteckten Lichtschaltern, Angestellten, die heimlich im „historischen“ Hinterhof rauchen, steckt es voller lustiger, absurder Geschichten. Und es zeigt, wie Touristenorte eben oft sind: für die Gäste eine schöne, trügerische Show. Für alle anderen harte Arbeit.

Kristin Höller: Leute von früher. Roman. Suhrkamp nova, Berlin 2024. 317 Seiten, 22 Euro

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