MEDITATIONSWEG AMMERGAUER ALPEN: »ÜBERGäNGE SIND DAS SCHWIERIGSTE IM LEBEN. SIE WOLLEN GESTALTET WERDEN«

Manchmal braucht es eine Atempause vom Leben. Manchmal muss man das Alleinsein spüren. Auf einer Pilgertour durch die Ammergauer Alpen entdecke ich am Ende viel mehr als erhofft.

Meine Mutter sagt, ich solle mich zu ihr legen, nur so könne man das Deckenfresko – wirklich! – erfassen. Sie liegt kurz vor dem Altarraum der Wieskirche auf dem Fußboden und betrachtet begeistert die Decke. »Immerhin liegt sie nicht vor dem Altar«, denke ich, während ich verlegen neben ihr stehe. Ich bin 15 Jahre alt, und mir ist diese Szene peinlich. »Spießer«, flüstert meine Mutter mir lächelnd zu, »Salon-Bolschewist«, kontere ich trotzig.

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40 Jahre später liege ich an derselben Stelle und gebe ihr recht: Die Plastizität der Darstellung des Zeitgottes Chronos, das Stundenglas, die Sense, das Buch des Engels, die Schlange wirken liegend deutlich lebendiger. Meine Mutter hatte mich damals auf meiner Reise begleitet, die mich von einem kleinen Eifeldorf ins Internat nach Garmisch-Partenkirchen führte. Ich weiß noch, dass sie mir mitgab: »Übergänge sind das Schwierigste im Leben. Sie wollen gestaltet werden.«

Obwohl sie kein gläubiger Mensch war, hat sie mich in jede Kirche geschleppt, mir zweimal wöchentlich den Besuch des Gottesdienstes in unserer Dorfkirche verordnet und bei besonderen Anlässen, wie einer Matheklausur, eine Kerze in der Kirche für mich angezündet. »Man muss nicht an Gott glauben, um in eine Kirche zu gehen«, war sie sich sicher.

Die Kerze hat immer geholfen. Ich spürte das Mitgefühl eines lieben Menschen, war nicht mehr allein in einer schwierigen Lage, wusste, egal was passierte, dass meine Mutter für mich da war. Vielleicht war dies der Anfang meiner Freude an Wallfahrten, Pilgerwegen und Sakralem.

Wieder bin ich in meinem Leben in einer Übergangszeit angekommen. Mein Sohn Laurin wird die Schule beenden und flügge, Zeit zum Loslassen. Auf der Ammergauer Pilgerwanderung möchte ich die Zeit nutzen, um das Alleinsein zu spüren. Am Ende wird es aber viel mehr sein, was mir der Weg durch diese klangvolle Landschaft schenkt.

Ohne Handy, ohne EC-Karte – nur mit Landkarte

Um wirklich ohne Störungen zu sein, habe ich kein Handy dabei, also auch keine Apps, die mir beim Navigieren helfen können, keine Unterhaltung und kein schnelles Nachschlagen bei Wikipedia. Keine Likes von mir, keine für mich. Auch auf eine EC-Karte verzichte ich, dafür habe ich ein kleines Bargeldbudget eingesteckt, welches ich mir einteilen muss. Und die gute alte Landkarte Werdenfelser Land: Naturpark Ammergauer Alpen. Kann also nichts mehr schiefgehen.

Der Ammergauer Meditationsweg beginnt bei der Wieskirche, die eigentlich Wallfahrtskirche zum Gegeißelten Heiland heißt und zwischen den Ortschaften Steingaden und Wildsteig im Pfaffenwinkel liegt. Er endet bei Schloss Linderhof im Graswangtal, einem von Ludwig II., dem Märchenkönig, sehr geliebten Ort.

Der Weg schlängelt sich durch das hügelige Vorland der Ammergauer Alpen, führt aufs Hörnle hinauf, folgt dem Flusslauf der Ammer und ist insgesamt 85 Kilometer lang. Statt der üblichen, im Christentum bedeutenden Zahl 14 – 14 Nothelfer, 14 Kreuzwegstationen – umfasst der Meditationsweg 15 Stationen, die ich in acht Tagen erlaufen möchte.

Von der Wieskirche führt der Weg entlang eines Wildbaches über die Dreifaltigkeitskapelle in Steingaden zum Etappenziel Kloster Rottenbuch. Auf meiner Karte entdecke ich einen Pestfriedhof sowie ganz in der Nähe eine Schutzhütte und eine Kapelle, die zur Gemeinde Morgenbach gehören. Alle drei Ortsmarken ziehen mich an, und auch die Vorstellung, in der Schutzhütte übernachten zu können.

Ich verlasse den vorgesehenen Weg, um ehrlich zu sein, kürze ich ab. Der Pestfriedhof liegt auf 902 Meter. Dort angekommen, genieße ich einen der schönsten Blicke in die Ammergauer Alpen: Ich erkenne die Scheinbergspitze, wo mein Sohn, damals 15, die legendären Worte ins Gipfelbuch schrieb: »Scheiß Berg, endlich oben.«

Das Alleinsein am Abend der ersten Nacht macht mich traurig. Früh lege ich mich in der Schutzhütte zur Ruhe, noch früher stehe ich wieder auf, gewohnt, morgens für die Familie das Frühstück zu richten, den Hund, die Hühner, das Pferd und die Vögel zu versorgen. Was mir manchmal alles auf den Keks geht, heute fehlt es mir. Alles, was ich zu tun habe, ist laufen.

Als das erste Licht des Frühlingsmorgens hereinbricht, bin ich schon unterwegs zu den Schleierfällen in der Ammerschlucht. In keinem Spa der Welt findet sich so eine Dusche. Die Traurigkeit ist verflogen.

Nebelschleier in der Moorlandschaft

Bad Bayersoien gehört zur dritten Etappe des Weges. Das Städtchen liegt an einem See und einem Fluss zugleich, ein lichter Ort mit farbenfroh gestrichenen Häusern und einer dörflichen Atmosphäre. Die Römerstraße Via Claudia führte einst durch Bayersoien, das damals Ad Seun hieß.

Ein Kirchenbesuch wäre natürlich für eine Pilgerin angemessen, doch zieht mich eine Kuriosität stärker an: Das Museum im Bierlinghaus präsentiert das Wohnzimmer und das Kontor der gleichnamigen Kaufmannsfamilie. Die hat sich durch geschickte Heiratspolitik, Fleiß und Risikofreude von Hoteliers zu Händlern aufgeschwungen. Das Wirtshaus steht heute noch, heißt inzwischen Metzgerwirt und bietet schöne Zimmer und regionales Frühstück. Das Vermögen der Bierlings liegt heute in einer Stiftung, die sich der Heimatpflege widmet. Diese Großzügigkeit und Heimatverbundenheit rühren mich.

Der Weiterweg folgt dem Verlauf der Ammer durch großartige Moorlandschaften, überall zwitschert es im Naturschutzgebiet, Nebelschleier steigen aus dem feuchten Torf auf, und die Hörnle-Gruppe steht wie ein Tor vor dem Ammergebirge in der Kulisse. Das Hörnle ist ein frecher Berg, dessen Gipfel nicht unbedingt hoch erscheint. Aber es gibt nur vor, klein zu sein, in Wahrheit ist der Aufstieg überaus anstrengend, immer nur steil bergauf.

Ich spare mir diesen Schlenker, der im Führer vorgeschlagen wird, und steige in Oberammergau über den Kofel, das Matterhorn von Oberammergau, und den Königssteig zum Pürschlinghaus weiter, das heute August-Schuster-Haus heißt. Der Weg ist fordernd, ausgesetzt und wild. Man sollte ihn nur wagen, wenn die Wetterbedingungen und die alpinen Fähigkeiten es erlauben. Die Häuser auf dem Pürschling sind sicherlich einer meiner Sehnsuchtsorte. Und das waren sie einst auch für Ludwig II., dessen Vater Maximilian sie sich als Jagdrefugium erbaut hatte.

Ludwig hielt sich hier jedes Jahr für ein paar Tage auf, ging in der Nacht am Berg spazieren und ließ sich von einem Schauspieler Verse rezitieren. In Oberammergau selbst ist viel vom Zeitkolorit der Regentschaft Ludwigs zu spüren. Ein dichtes kulturelles Angebot – Theater, Musik und Bildhauerei – beleben den Ort.

Der bieder klingende Name Schnitzschule Oberammergau verbirgt, dass hier Kreative ausgebildet werden, deren Kunst mich begeistert, so auch die der Tochter des Fotografen. Sie hat als Abschlussarbeit filigrane Kraniche geschnitzt, federleicht und gleichzeitig eine Hommage an ihre Kindheit, die sie mit ihren Eltern nach Japan führte. Schulbesichtigungen sind während der Unterrichtszeit möglich.

Klarheit durch das Pilgern

Die letzte Etappe führt mich nach Schloss Linderhof. Man geht entweder vom Pürschlinghaus weiter zur Brunnenkopfhütte und steigt dann ab. Oder man wandert alternativ vom Kloster Ettal durch das wunderschöne Graswangtal. An seinem lichten Eingang lockt dieses Tal mit überbordender Lieblichkeit.

Weideland, Dörfer und das Bächlein Linder schmiegen sich in die Landschaft. Weiter im Tal wird man schier verschlungen von der Wildheit der rauen Bergwelt. Schloss Linderhof mit seinem großzügigen Park wirkt unwirklich akkurat in dieser wüsten Welt, der Maurische Kiosk mit seinen goldenen Türmchen und das Marokkanische Haus scheinen aus Aladins Wunderlampe entsprungen.

Die große Linde, in der sich Ludwig ein Baumhaus baute, um darin zu frühstücken, steht noch immer vor der Springbrunnenfontäne. Der Park, geplant von Ludwigs Hofgärtner Carl von Effner, ist so vielseitig, dass man gut und gern einen ganzen Tag mit der Besichtigung verbringen kann. Mein Lieblingsplatz liegt oberhalb des Terrassengartens am Rundtempel – von hier sieht das Schloss fast ein wenig bescheiden aus.

Ich freue mich über die vielen Gäste, ich freue mich, wieder unter Menschen zu sein, und ich freue mich, auf der Pilgerwanderung Klarheit gefunden zu haben, wie meine Zukunft aussehen wird. Was mich von meiner verstorbenen Mutter trennt, ist nur ein Zeitraum, die Beziehung bleibt in meinem Herzen bestehen. Das Gefühl der Kerze, die sie für mich aufstellte, kann ich weitergeben, indem ich dasselbe für meinen Sohn tue. Wo immer er ist.

Aus der Pilgerwanderung nehme ich auch das wertvolle Gefühl von Zuversicht und Selbstverlässlichkeit mit. Denn offenbar bin ich nicht angewiesen auf moderne Kommunikationsmittel und große Geldbeträge. Von meinem Budget kaufe ich drei Kerzen, die ich in Kloster Ettal aufstelle. Eine davon ist für mich.

Dieser Artikel ist ein Auszug aus dem Buch »Hoch und Heilig« von Sandra Freudenberg und Stefan Rosenboom (siehe Informationskasten zum Buch).

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